Frühjahrstournee 2024
Geschätzte Konzertbesucherinnen und -besucher
Fünfundzwanzig Jahre alt war Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, als er 1900 in wenigen Herbstwochen seine Orchesterdichtung «Im Wald» komponierte. Peter Tschaikowsky begann seine 1. Sinfonie kurz vor seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag im Frühjahr 1866. Und Igor Strawinsky, der wie Tschaikowsky zuerst die Ausbildung zum Juristen durchlaufen hatte, war siebenundzwanzig und noch kaum bekannt, als er Ende 1909 den Auftrag zur «Feuervogel»-Ballettmusik erhielt.
Wenn wir bei Strawinsky ein Auge zudrücken, hätten alle drei Komponisten aktive Mitglieder im SJSO sein können! Wer im SJSO mitmachen will, darf nämlich bei Tourneebeginn höchstens fünfundzwanzig sein. Und natürlich müssen alle Mitglieder zuerst das strenge Probespiel bestehen – ganz so, wie in einer späteren Berufslaufbahn. Mit einem Profiorchester vergleichbar ist das SJSO auch in anderer Hinsicht: Nämlich bezüglich des künstlerischen Niveaus! Das haben uns die Gastdirigenten der vergangenen Tourneen einhellig bestätigt.
So hat der Dirigent Christoph-Mathias Mueller, der im vergangenen Herbst Mahlers 7. Sinfonie mit dem SJSO aufgeführt hat, dem Orchester eine «absolut professionelle Darbietung, kombiniert mit der Hingabe und Furchtlosigkeit der Jugend» attestiert. Ein Lob, das den Stiftungsrat zwar keineswegs überrascht, aber sehr gefreut hat!
In der aktuellen Frühjahrstournee wird das SJSO von Modestas Pitrėnas, seit 2018 Chefdirigent des Sinfonieorchesters St. Gallen, und seinem Assistenten Adomas Morkūnas-Budrys geleitet. Sie nehmen uns und das Orchester mit in den Zauberwald ihres litauischen Landsmanns Čiurlionis, in Tschaikowskys neblige Winterlandschaften und in den dunklen Garten von Strawinskys Märchenballett.
Das stimmige Programm wird das SJSO und seine Qualitäten im besten Licht zeigen. Wie immer, wenn kein Solokonzert auf dem Programm steht, heisst es nämlich: Das Orchester ist der Star!
Modestas Pitrėnas im Gespräch über M. K. Čiurlionis
Komponist, Maler, Litauer
Lieber Herr Pitrėnas, wer war Mikalojus Konstantinas Čiurlionis? Čiurlionis war einer der markantesten und einzigartigsten Künstler an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Sein Interessengebiet umfasste Malerei und Musik, Geschichte und Naturphilosophie – alles, was für ihn von der Schönheit und Majestät der Schöpfung erzählte.
Welche Bedeutung kommt ihm für die litauische Kultur zu? Der litauische Nationalstaat wurde 1918 ausgerufen, sieben Jahre nach seinem Tod. Als eine Art Herold des Nationalismus war Čiurlionis eine wichtige Figur in diesem Prozess. Er bezeichnete sich stets dezidiert als Litauer, und in seinen Briefen (die er auf Litauisch schrieb!) betonte er die Bedeutung der litauischen Sprache und Kultur. Dass im Familien- und Freundeskreis weiterhin Polnisch gesprochen wurde, darf nicht verwundern, denn die litauische Sprache und Kultur wurde von den zaristischen (und später auch von den sowjetischen) Behörden gezielt ausgehöhlt, ja sogar verboten. Die litauischen Eliten wurden in Warschau, St. Petersburg und an westlichen Universitäten ausgebildet.
Čiurlionis ging 1901 nach Leipzig, um seine Ausbildung am berühmten dortigen Konservatorium zu ergänzen. Im Winter davor schrieb er zu Hause die sinfonische Dichtung «Miške», welche das SJSO nun spielt. Der Titel bedeutet «Im Wald». Geht es um den realen litauischen Wald, oder mehr um eine ästhetische Idee? Der Komponist wurde in einem kleinen litauischen Ferien- und Kurort geboren und wuchs dort inmitten malerischer Kiefernwälder auf. Die symphonische Dichtung ist zweifellos von den Anblicken und Gerüchen dieser Landschaft inspiriert: das Rascheln der Nadelbäume, die Waldlandschaft im Mondlicht, das nächtliche Schwimmen in einem Waldsee, die Szene eines Sturms und die Stille danach. All dies ist reizvoll und romantisch, aber was dieses Werk zu einem symbolistischen Kunstwerk macht, ist die Vorstellung des Menschen inmitten der Natur, mit seinen Gefühlen und Fantasien, seinen Erleuchtungen und Sorgen.
Die Warschauer Uraufführung von «Miške» scheiterte 1902 im letzten Moment aus nicht ganz klaren Gründen. Čiurlionis war zu der Zeit in Leipzig, und nach seiner Rückkehr hat er sich immer stärker der Malerei zugewandt … Meiner Meinung nach war Čiurlionis ein besserer Maler als Komponist! Seine Bildsprache ist sehr tiefgründig und einfühlsam, und seine Pastell-Aquarelle sind – wie soll ich sagen? – wie Geister, die den menschlichen Körper verlassen und zurückkehren, um ihn zu bereichern. Vielleicht spürte Čiurlionis dies und strebte in der Musik, in der er sich schwächer fühlte, umso angestrengter nach Höherem. Während seines Studiums in Leipzig hört er zum ersten Mal die Musik von Strauss (vor allem seine symphonischen Dichtungen) und ist von ihr wirklich fasziniert. Er nennt sich «krank» vor Begeisterung, und leider ist er dies auch ganz wörtlich, denn er hat nun ständig mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen, die wiederum «Seelenkrankheiten» mit sich bringen, die bis zu seinem Lebensende fortschreiten.
Schon mit fünfunddreissig Jahren starb Čiurlionis. Welchen Stellenwert haben die erstaunlichen Frühwerke wie «Miške» in einem so kurzen Künstlerleben? Es ist schwer zu sagen, wie viel mehr Čiurlionis erreicht hätte, wenn er länger gelebt hätte. Seine kurze Lebensspanne und sein «verrückter» Lebenslauf erinnern mich sehr an Schumann. Erschwert wird die Sache dadurch, dass Čiurlionis als Maler mehr Zeit aufwenden musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und es scheint mir, dass er seine späteren Arbeiten auf Papier als therapeutisches Mittel nutzte, vor allem in seinen letzten Jahren in einer psychiatrischen Klinik. Vielleicht sind die Werke seiner Jugend deshalb so ausgereift: Hier stand sein Wille im Vordergrund, uns viel Interessantes über sich – und uns – erzählen …
Zum «verrückten» Lebensweg von Čiurlionis gehört, dass kaum grössere Werke erhalten sind. Einige konnten in den letzten Jahren zwar rekonstruiert worden, aber die meisten sind gar nie über das Skizzenstadium hinausgekommen wie seine grosse Oper «Jūratė». Das Spätwerk des Komponisten ist gleichsam im Zwielicht seines schwindenden Bewusstseins ertrunken. Er skizziert viel, vollendet aber gar nichts. Seine einfühlsamen Briefe an seine Frau Sophie verraten, wie er leidet und liebt; wie er versucht zu schaffen – leider erfolglos. Sein Vermächtnis – das Ergebnis von nur einem Dutzend Jahren Arbeit – ist ein sehr wichtiges Zeugnis der entstehenden litauischen Identität. Zusammen mit den grossen Symbolisten wie Skrjabin, Rilke, Hofmannsthal, Karol Szymanowski, Gustave Moreau, Munch, Rodin usw. vermittelt Čiurlionis das Bild der dekadenten Kunst der Zeit – wobei diese Kunst bei ihm gleichzeitig sehr nationalistisch litauisch, sogar volkstümlich sein wollte.
Zu den Werken
Märchenträume
Čiurlionis: «Miške»
«Miške» (litauisch für «Im Wald») ist ein faszinierender Geniestreich des litauischen Symbolisten Mikalojus Konstantinas Čiurlionis. Diese zur Jahrhundertwende entstandene symphonische Dichtung zeugt zugleich wunderbar von der künstlerischen Virtuosität des Komponisten und von seiner ungewöhnlichen Fähigkeit, bildende Kunst (Čiurlionis wirkte auch als Maler) und Musik mit philosophischer und emotionaler Tiefgründigkeit zu verweben.
In «Miške» reflektiert Čiurlionis das Verhältnis von menschlicher Seele und äusserer Natur und spürt der geheimen Verbindung aller Formen des Lebendigen nach. Der Wald wird symbolistisch aufgeladen zum gleichsam sakralen Ort, der sowohl Zuflucht als auch Inspiration bieten kann, und wo sich die Grenze zwischen Körperlichem und Geistigem verwischt. So wird der Wald zum Ort, wo wir Antworten auf die tiefschürfenden Fragen des menschlichen Daseins suchen.
So stellt auch Čiurlionis den Wald dar: Als Ort des Wunderbaren und Furchteinflössenden, wo die Natur ihre Geheimnisse offenbart. Die Bäume flüstern uralte Geheimnisse, in den Waldlüften säuseln die Stimmen unsichtbarer Wesen. Gleich zu Beginn der symphonischen Dichtung entführt uns das Orchester in die Stimmung des undurchdringlichen Waldes. Holzbläser und Streicher evozieren das Bild raschelnder Blätter und murmelnder Bäche, aus denen sich allmählich singende Vögel und scheue Waldtiere schälen – lebendige Natur!
Strawinsky: «L’oiseau de feu»
Igor Strawinskys Feuervogel-Ballett – nach der gleichnamigen Figur des slawischen Sagenkreises, die Wohlwollen und Bedrohung gleichzeitig symbolisiert – ist eine Perle der Musik- und Ballettgeschichte, deren Glanz seit über einem Jahrhundert nicht verblasst ist. Der Kompositionsauftrag an Strawinsky im Dezember 1909 bedeutete den Beginn der langen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Ballets Russes und ihrem schillernden Impresario Sergei Diaghilev. Gleich dieses erste gemeinsame Ballett wurde – dank dem Reichtum von Strawinskys Partitur ebenso wie dank dem fesselnden Szenarium – zu einem Meilenstein in der Geschichte der Bühnenkunst.
Unter musikalischen Gesichtspunkten ist die meisterhafte Verschmelzung von russischem Volkston und klanglicher Exotik hervorzuheben. Wie kaum einem anderen gelingt es Strawinsky hier, Tradition mit Innovation zu verbinden. Pulsierende Rhythmen, geheimnisvolle Harmonik, glänzende Machart und die immer wieder neuartige Verwendung einzelner Klangfarben widerspiegeln perfekt die Fantastik des Ballett-Sujets. Diese Verbindung von tradiertem Märchenstoff und zukunftsweisender Kompositionstechnik schlug erfolgreich die Brücke vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert und kündete so eine neue musikalische Epoche an.
Tschaikowsky: 1. Sinfonie
In seiner Ersten, vom Komponisten mit dem Beinamen «Winterträume» versehenen Sinfonie fängt Tschaikowsky das Wesen des Winters ein. Ähnlich wie bei Čiurlionis gilt sein Sensorium dem Zauber, dem Wunderbaren dieser Jahreszeit. Und Tschaikowsky beweist, dass er mit seiner Musik Landschaften emotional aufzuladen versteht. Er lässt uns eintauchen in eine Traumlandschaft aus gefrorenen Flüssen, schneebedeckten Wäldern und eiskalter Luft. Bei aller Kälte ist die Sinfonie eine Liebeserklärung an die Schönheit und Härte des Winters. Fast spüren wir beim Anhören die Schneeflocken leise fallen – und empfinden die überwältigende Macht der Einsamkeit. So führt diese Reise doch wieder ins Innerliche.
Möglicherweise hat sich Tschaikowsky von einem 1844 erstmals erschienenen Gedicht von Jakow Petrowitsch Polonsky inspirieren lassen. Mit Polonsky hat Tschaikowsky später zusammengearbeitet, und das Gedicht war äusserst populär. «Winterreise» heisst es, und schildert die Fahrt durch nächtlichkalten Wald, mit knirschenden Schlittenkufen im dichten Nebel. Unter dem warmen Verdeck schweifen die Gedanken ab in einen Märchentraum: Ein böser Zauberer hält eine Prinzessin gefangen im Garten des Feuervogels… Dies aber ist genau der Stoff von Strawinskys Ballett, und tatsächlich diente Polonskys Gedicht als eine der Anregungen für Diaghilevs «Feuervogel». So schliesst sich der Kreis.
Das Orchester
Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester
Seit 1969 vereint das Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester (SJSO) hohes Können mit Leidenschaft, indem es musikbegeisterte Jugendliche aus allen Landesteilen zusammenbringt. Damit gehört das SJSO zu einer der ganz wenigen gesamtschweizerischen Kulturinstitutionen.
Es ist ein Orchester der besonderen Art: Aus allen vier Landesteilen der Schweiz kommen bis zu hundert junge Musikerinnen und Musiker im Alter von 15 bis 25 Jahren zusammen und führen unter der Leitung erfahrener Dirigent*innen anspruchsvolle Werke aus allen Epochen der klassischen Musik auf.
In den Proben und bei den Konzertauftritten machen die talentierten Jugendlichen wichtige Erfahrungen im Orchesterspiel, die den weiteren Verlauf ihrer Musikerlaufbahn entscheidend prägen. So sind viele der ehemaligen SJSO-Mitglieder heute in renommierten Berufsorchestern engagiert.
Dank der Mehrsprachigkeit werden auch Brücken zwischen den einzelnen Kulturkreisen der Schweiz geschlagen. Das Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester vermag während der Frühjahrs- und Herbsttournee mit jeweils fünf bis sieben Konzerten in der ganzen Schweiz das Publikum immer wieder aufs Neue in seinen Bann zu ziehen und die Medien zu begeistern.
Durch diese Nachwuchsförderung im Bereich der klassischen Musik leistet das SJSO einen wichtigen Beitrag im schweizerischen Kultur- und Bildungswesen. Möglich macht dies die finanzielle Unterstützung von Bund, Kantonen, Gemeinden, Unternehmen, privaten Stiftungen und der eigenen Förderergesellschaft. Seit 2018 unterstützt die Bank Cler das SJSO als Sponsorin.
Künstlerischer Leiter des SJSO ist seit Sommer 2023 Johannes Schlaefli.
Orchesterbesetzung Frühjahr 2024
Violine I
Konzertmeister:
Filippo Jakova (Lugano)
Montobbio Bianca (Sion)
Miriam Bögli (Bern)
Shirin de Viragh (Zollikon)
Lea Diana Erni (Basel)
Selina Frei (Rüti/ZH)
Marius Gruffel (Perly)
Annina Holliger (Basel)
Claire Nendaz (Sion)
Naomi Onaka (Winterthur)
Lucia Piastrelloni (Lugano)
Colin Soldati (Sonceboz-Sombeval)
Violine II
Stimmführung:
Sophie Knöchelmann (Luzern)
Bianca Maria Cainelli (Sion)
Lea Frei (Rüti/ZH)
Klara Kirchner (Biel)
Melanie Krebser (Kriens)
Alessandra Lichtneckert (Basel)
Emilie Merten (Bannwil)
Harutun Nalbandian-Abbasov (Douvaine)
Mika Ruckstuhl (Petit-Lancy)
Michèle Rüegg (Herrenschwanden)
Arianna Vicari (Ostermundigen)
Viola
Stimmführung:
Antoine Thévoz (Penthalaz)
Yunan Chen (Basel-Stadt)
Mira Maranta (Luzern)
Syméon Newell (Genève)
Clémence Phan-Garrigues (Lausanne)
Naomi Spicher (Corcelles-près-Payerne)
Léa Sturzenegger (Thônex)
Violoncello
Stimmführung:
Camille Thévoz (Penthalaz)
Giulietta Di Marco (Lausanne)
Erik Dolci (Kriens)
Hélène François (Lausanne)
Claire Heinrich (Lausanne)
Marlen Inderwildi (Bern)
David Pfistner (Luzern)
Délia Phan (Lausanne)
Juliette Rochat (Pully)
Kontrabass
Stimmführung:
Arnauld Crettenand (Hérémence)
Dimitri Neff
Azuna Onishi (Zürich)
Ariane Thomann (Rotkreuz)
Flöte
Eline Gros (Yverdon-les-Bains)
Valentin Kruger (Annemasse)
Anett Laura Kállai (Bern)
Leandra Rohmann (Dietwil)
Jessica Walgenwitz (Lausanne)
Oboe
Pietro Bodini (Lugano)
Vera Gassmann (Thun)
Léane Plain (Gibswil)
Klarinette
Rodrigo Neves (Lausanne)
Gabriel Pernet (Bern)
Julian Remund (Seon)
Léonard Wüthrich (Pully)
Fagott
Ré Minart-Warscotte (Annemasse)
Horn
Maurin Jenni (Schüpfheim)
Emanuel Kiser (Wahlendorf)
Lucie Lemaire (Annemasse)
André Marques (Sarnen)
Elias Merki (Basel)
Trompete
Diego Bassi (Arzo)
Jonas Wilhalm (Basel)
Posaune
Massimiliano Cabras (St-Prex)
Robin Fragnière (La Chaux-du-Milieu)
Tuba
Luís Duarte Batista Leitão (Kriens)
Schlagzeug
Camille Cossy (Bern)
Sébastien Lafosse (Annemasse)
Elia Maigre (Bernex)
Louis Thomson
Harfe
Marlene Andersson (Lausanne)
Anna Vera Gander (Stans)
Tasteninstrumente
Jan Zwahlen (Niederuzwil)